Lasst euch eure Lebensform verändern – durch ein neues Denken

Es gehört zum Wesen des Menschen, sich Kinder zu wünschen und mit ihnen – möglichst als eine Familie – zu leben. Gleichzeitig gibt es aber auch solche Lebensentwürfe, in denen Kindern keinen Platz haben.

Was bedeuten Kinder für unser Leben?

Hinter all dem stehen verschiedene Geschichten, Lebenssituationen und Lebensbedingungen. Angesichts dessen fragen wir uns: Wie gehören Kinder zu unserem Leben, was ist uns mit Kindern gegeben, was ist uns mit Kindern zugemutet, was ist uns mit ihnen geschenkt? Diese weit reichenden ethischen Fragen nach der Bedeutung von Kindern für unser Leben und unsere Welt sind mit Einstellungen, Erwartungen, Hoffnungen und Aufgaben verbunden, die unser ganzes Leben und Zusammenleben betreffen. Unsere Gesellschaft ist alles andere als kinderfreundlich. Zu den sich beständig verändernden Ursachen gehören z. B. die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit, die unabsehbaren ökonomischen Bedingungen, aber auch die Veränderungen im Verhältnis von Frauen und Männern, im Verständnis von Familie, eine veränderte Einstellung zur Sexualität, veränderte Lebensstile oder die Folgen zunehmender Mobilität.

Mentalitätswandel?

Wenn diese Bedingungen verändert werden sollen, müssen sich zuerst unser Denken und unsere Einstellungen ändern. Manche haben in Bezug auf Kinderfreundlichkeit einen Mentalitätswandel gefordert. Doch dieser lässt sich nicht einfordern; in unseren Einstellungen und in unserem Denken spricht sich aus, wer wir sind und was uns unaufgebbar erscheint. Da gibt es z. B. die Auffassung, dass jeder sein Leben selber planen muss – und dies zunehmend mehr – oder sich fragen muss, welche Alternativen und Optionen er hat, um nichts zu versäumen oder zu verschenken. Diejenigen, die weniger von den vorgegebenen Bedingungen bestimmt werden, sprechen eher davon, das Leben zu „gestalten“. Leicht werden dann auch Kinder zum Gegenstand solcher Gestaltung: sie sind nicht nur geschenkt und erwartet, sondern gewollt und geplant – oder nicht gewollt. Es sieht manchmal so aus, als müsste immer wieder neu entschieden oder verteidigt werden, ob Kinder zum Leben gehören oder nicht.
Wie kann es geschehen, dass sich solche Denkweisen verändern, dass Kinder nicht mehr eine unter vielen Optionen sind, dass Kinder nicht – gezwungen oder freiwillig – zur Disposition stehen? Was immer – auch politisch – getan werden kann, um die „Entscheidung für Kinder“ zu erleichtern, ist zu tun. Doch schon dazu braucht es die Bereitschaft, Kinder anzunehmen und dafür einzutreten – eine hoffnungsvolle Bereitschaft, die getragen ist von einem Vertrauen, das uns nicht von den eigenen Befürchtungen und Planungen abhängig sein lässt. Kinder verändern unser Leben tief greifend; eine Gesellschaft, die auf Kinder achtet, ist eine andere als eine Gesellschaft, in der Kinder nur am Rande berücksichtigt werden. Und nicht weniger gilt dies von der Welt, in der so viele Kinder so unendlich viel leiden müssen, dass kaum noch von einer entwicklungsfähigen Welt zu reden ist.

Verheißungsvolle Erinnerung an Gottes Willen

Die ethischen Weisungen in der Bibel sind nicht zuerst Forderungen, sondern verweisen auf das, was uns an befreienden Erfahrungen gegeben ist. Von hier her geschieht die Erneuerung des Denkens als Voraussetzung dafür, dass sich unser Leben verändert. Den Christen sagt Paulus: „Ich erinnere euch im Blick auf die barmherzigen Taten Gottes ... passt euch nicht an die Denkweisen dieser Zeit an, sondern lasst euch eure Lebensform verändern durch die Erneuerung eures Denkens – damit ihr erproben könnt, was Gott für euch und von euch will: das Gute und das Schöne und das Unübertreffliche“ (Röm 12,1-2). Von dieser Erneuerung unseres Denkens geht die Veränderung unserer Lebensform aus. Die Erneuerung kommt nicht durch eine Forderung nach einem Mentalitätswandel in Gang, sondern durch die Besinnung und durch die Aufmerksamkeit auf all das, was wir von Gott empfangen und erfahren, was wir nicht zu planen und zu besorgen haben, sondern Tag für Tag empfangen und uns gefallen lassen: Die Sonne, die uns jeden Tag aufgeht, die Gesundheit, die uns gegeben ist, die Menschen, mit denen wir zusammen leben, aber auch das, was uns gegen unser Wollen widerfährt, von dem wir nicht wissen, was es für uns bedeutet, und das zu unserer Geschichte gehört – eine Geschichte, die wir nicht selbst machen. Dies alles ist uns gegeben und geschenkt, es ist nur bedingt unseren Planungen und Befürchtungen ausgeliefert und trägt so unser Leben. Wir wären unfrei, würden wir uns allein von unseren Vorstellungen gefangen nehmen lassen, ohne die erwartungsvolle Frage, was Gott mit uns vorhat. Dass Kinder uns anvertraut sind, auch mit all den damit verbundenen Aufgaben, zeichnet uns aus. Sich auf Kinder einzulassen bedeutet zu erproben (Röm 12,2), was Gott für uns und von uns will und zugleich unsere eigenen Vorstellungen und Planungen zur Disposition zu stellen. So wird sich vieles ändern – eben mit Kindern und mit all dem, was sie in unser Leben bringen.

Konfliktlagen – jede ist zu achten

Sich auf Kinder einzulassen, erleben nicht wenige Menschen, die sich in verschiedenen Notlagen unausweichlichen Notwendigkeiten und Konflikten ausgesetzt sehen, als eine unabsehbare Zumutung. Bei vielen Betroffenen, besonders bei betroffenen Frauen, die in der Situation allein gelassen sind, gibt es oft keine Lösung, die sie aus eigener Kraft finden können. Sie sehen dann nur den Ausweg, das Kind nicht anzunehmen. Doch dies löst den Konflikt nicht auf. Es kommt vielmehr alles darauf an, Menschen zu helfen, mit ihrer besonderen Geschichte zurechtzukommen.
Kinder sind – gemeinsam mit den Eltern – auch uns allen von Anfang an anvertraut. Wenn Mütter und Väter nicht für sie einstehen können, dann sind andere gefragt: jedes Menschenkind ist ein Erdenbürger, der uns allen anvertraut ist. Alle, die für das Leben von Kindern eintreten, stehen für die Verheißung, die darin gegeben ist, dass Kinder uns geschenkt und anvertraut sind. Kinder gehören zu uns Menschen und darüber muss nicht immer wieder neu entschieden werden. Wenn diese Verheißung nicht mehr gehört werden kann, gibt es vieles zu tun, dies zu ändern und jedem zu helfen, unter dieser Verheißung zu leben. Was wäre diese Welt ohne Kinder? Kinder anzunehmen und als die eigenen Kinder zu erfahren, ist in besonderer Weise den Frauen anvertraut und abverlangt. Auch fordern Kinder dazu heraus, zu entdecken, was „Familie“ heißt. Alle denkbare Hilfe, auch die medizinische, muss sich darauf richten, dass die werdenden Mütter und Familien sich nicht alleine wissen. Es ist entscheidend, dass dies kein Geschehen mit offenem Ausgang ist, sondern ein Geschehen in der hoffnungsvollen Erwartung, dass es gut geht. Je mehr die Medizin dazu beitragen kann, Kinder zu empfangen, umso mehr kommt es darauf an, dass damit nicht zugleich andere Zwecke und Ziele verfolgt werden, vielleicht das fragwürdige Ziel, unbedingt und ausschließlich ein gesundes Kind erwarten zu wollen. Alle notwendige medizinische Hilfe und Beratung darf niemandem die Frage erlassen: Was ist uns mit Kindern gegeben, was hat Gott mit diesem Kind, das wir erwarten dürfen, vor? Kinder sind uns anvertraut, auch die Kinder, von denen wir vielleicht glauben, sie würden nicht das Leben leben können, das wir ihnen oder uns selbst wünschen und vorstellen; dies gilt nicht zuletzt für Kinder mit Krankheiten oder Behinderungen. Was die Medizin an vorgeburtlicher Diagnose und Beratung leistet, kann desto mehr der Vorsorge dienen, je deutlicher sie darauf ausgerichtet ist, von Anfang an für die Kinder zu sorgen. Die immer leistungsfähiger werdende vorgeburtliche Diagnostik kann dazu führen, dass Menschen im Voraus mehr wissen, als es für die Vorsorge braucht; sie werden möglicherweise nur belastenden Sorgen ausgesetzt. Dies betrifft vor allem die Diagnostik, die das Erbgut in großer Breite zu bestimmen im Stande ist, wie die auf Genomanalyse beruhende Diagnostik. Es kommt alles darauf an, die Balance zwischen Diagnostik und Vorsorge zu halten. Auch dies gehört zur Veränderung des Denkens.

Kinder uns anvertraut – eine Welt für Kinder

Wenn Eltern ein Kind erwarten, tragen alle Mitverantwortung für den „neuen Erdenbürger“. Das wirkt sich aus im Blick auf konkrete Bedingungen und Erleichterungen in der Arbeitswelt, in den politischen Kommunen oder in den Kirchengemeinden. Hierzu Phantasie und Entschlossenheit zu entwickeln, setzt die Kraft einer Denkweise und Einstellung voraus, die auf Kinder ausgerichtet ist. Für Kinder etwas einzusetzen und sich diese anvertrauten Geschöpfe im buchstäblichen Sinn auch etwas kosten zu lassen, ohne dass dies unter wirtschaftlicher Rücksichtnahme wieder aufgehoben wird, darum geht es. Auch mit anderen Bedingungen und Einstellungen geht es wie bei den ökonomischen: Die Frage ist nicht, wie Kinder in unserem Denken und in unserer Welt Raum haben können. Vielmehr geht es darum: wenn Kinder uns anvertraut sind und wir daraufhin unser Denken verändern lassen, wie verändert sich damit unsere Welt: eine Welt für Kinder, die dann auch eine andere Welt für alle Menschen ist.

Hans G. Ulrich